3. September 2010

SCHATTENHELL

Grossmarkthalle-Westseite

Händlereingänge von A. Masche
Einführungstext von Frank Witzel

Helle Schatten

Die Geschichte des Christoph Andreas Günther

Zur Ausstellung Schattenhell
Heyne Fabrik
2. September 2010




Den Sommer des Jahres 1828 verbringt Goethe nördlich von Jena in Dornburg am Rand des Muschelkalkfelsenplateaus. Er lernt dort durch Vermittlung seines Dieners Johann August Friedrich John dessen Neffen Christoph Andreas Günther kennen, einen jungen Mann, gerade Anfang zwanzig, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er Goethes Farbenlehre genau studiert hat und sie glühend gegen die allgemein vorherrschende Newtonsche Auffassung von der Entstehung der Farben verteidigt. Goethe ist zu diesem Zeitpunkt 79 und hat noch vier Jahre zu leben. Gerade hat er einen Schicksalsschlag erlitten, denn sein Sohn August ist während einer Italienreise in Rom unerwartet verstorben. Eine weitere große Enttäuschung seines Lebens ist die ablehnende Haltung der Öffentlichkeit gegenüber seinem umfangreichsten Werk, der Farbenlehre, genau jenem Werk, das Goethe selbst als sein wichtigstes erachtet. So entsteht in den folgenden Wochen der Plan, den jungen Christoph Andreas Günther, auf eine Reise nach Italien zu schicken, damit er empirische Beweise für Goethes Theorie sammle, die im Gegensatz zur Anschauung Newtons, Farben seien lediglich Bestandteile des weißen Lichts, zeigen soll, wie die Farben selbstständig aus einer Wechselwirkung von Licht und Schatten, Hell und Dunkel, entstehen. Christoph Andreas Günther wird mit einer großzügigen Summe ausgestattet und verlässt Dornburg Ende August. Neben einem Tagebuch, in das er täglich seine Beobachtungen eintragen und mit aquarellierten Skizzen illustrieren soll, erwartet Goethe, durch regelmäßige Briefe über den Verlauf der auf ein halbes Jahr angelegten Reise unterrichtet zu werden.
Der erste Brief trifft am 2. September 1828 bei Goethe ein. Günther schreibt:


Beim Aufbau


Hans-Jürgens Maß


Hoch verehrter Herr Geheimrat,
gestern machte ich Station in Kulmbach im Fichtelgebirge und wandelte dort selbst in einem künstlich angelegten Park, als ich vom Weg ab in die Nähe eines Sanatoriums geriet und dort eine jener armseligen Gestalten auf einer Bank im Sonnenlicht sitzen sah, die nicht länger Anteil am Geschehen der Welt nehmen und auch sich selbst nichts mehr bedeuten. Das Gesicht blass und eingefallen, mit den Händen beständig einen Schawl knetend glich dieses Weib einer konturlosen Geisterscheinung. Ein klappernder
Fensterladen schräg über ihr, warf immer wieder Schattenspiele über das regungslose Gesicht, und ich stand wie erstarrt, meinen Leinensack mit Eurem kostbaren Werk (gemeint ist die Farbenlehre) vor meinen Füßen niedergesenkt. Ich entsann mich jener Vorführung in des Herrn Geheimrats Atelier, als Herr Geheimrat selbst den Kerzenschein um eine Maske führte und ihr mit dem Schatten einmal Tiefe und Trauer, dann wieder ein flaches Grinsen entlockte, ganz so als würde sie selbst diese menschlichen Regungen zeigen. Hier nun erblickte ich erneut dieses Spiel, diesmal umgekehrt hervorgebracht durch einem losen Laden, vom Wind bewegt, der dem nach innen gekehrten, fern entrückten Gesicht der Schwachsinnigen das Leben wiederzugeben schien, das ihr einmal inne gewohnt haben mochte. Und ich lief hinzu und kniete vor dem verlorenen Wesen und griff seine Hände, die sich nicht von dem zerwrungenen Tuch lösen mochten und vergoss Tränen über sie, Tränen des Mitleidens, aber auch Tränen der Freude über die Erkenntnis, Eure Erkenntnis, verehrtester Meister, dass der Schatten alles schafft, jegliche Stimmung, jegliche Bewegung des Gemüts, denn an den Kanten von Schatten und Helligkeit, wie ihr es so trefflich in Worte fasst, entstehen die Farben, das Gelb, das Blau und das Purpur in seinem königlichen Rot.


Ralph Zoller und Heide Khatschaturian

Flugzeugschatten

Draga und Anneliese


Zehn Tage später erreicht Goethe ein Brief aus Holzkirchen, in dem Günther unter anderem folgende Beobachtung schildert:

Auf dem Vorplatz der Kirche, es mag gegen zwei Uhr gewesen sein, die Sonne hatte ihren Zenith bereits überschritten und ließ die ihr entgegenstehen Dinge und Menschen prächtige Schatten werfen, beobachtete ich eine Schar Kinder bei einem fremdartigen Spiel. Einem von ihnen, einem rundlichen Knaben mit verweintem Gesicht, war allem Anschein nach befohlen worden, sich regungslos in der Mitte des Platzes aufzustellen, während die anderen, Knaben und Mädchen gleichermaßen, Steine herbeitrugen und diese hinter ihm ablegten. Zuerst verstand ich den Sinn ihres Treibens nicht, dann aber meinte ich zu begreifen: Sie versuchten in ihrer Unmündigkeit, den Schatten des Knaben mit den Steinen zu überdecken und gleichsam an der Stelle festzuhalten, um den Jungen hernach von nämlichem Platze hinwegzuziehen und so von seinem eigenen Schatten zu trennen. Doch wie sie sich auch mühten und wie viele Steine sie auch anbrachten, der Schatten behielt immer die Oberhand. Da mich das leidende Opfer dieser Unternehmung barmte, rief ich einen der älteren Knaben herbei und befragte ihn, was der Zweck ihrer Unternehmung sei. Zu meinem Erstaunen erhielt ich die Antwort, dass sie den Knaben keineswegs necken wollten, sondern ihm vielmehr helfen, sich von seinem schweren Schatten zu befreien, der allein ihn daran hindere ebenso schnell zu laufen und so hoch zu springen wie sie. Ich erinnerte mich im selbigen Moment des Berichtes eines Reisenden, der bei einigen Steppenvölkern den Ursprung der Steinigung auf einen ähnlichen Gedanken zurückführte, nämlich den Versuch, die von einem vergifteten Schatten befallene Person, also einen verwunschenen oder verhexten Menschen, von ihrem Schatten zu erlösen, indem man diesen mit Steinen beschwerte oder mittels Steinwürfe zum Verschwinden oder zur Trennung vom Körper zu bewegen suchte. Da sich dieser unbrauchbare Plan nicht durchführen lässt, steinigt man schließlich den vom vergifteten Schatten Befallenen selbst, teils aus Unmut und Hilflosigkeit, teils aus der Überlegung, ihn allein durch eine derartige Maßnahme vor einem schlimmeren Schicksal zu bewahren.

Fünf Tage später schreibt Günther an Goethe aus der Schweiz:

Großmarkthalle / Keller

Da die Menschen den Schatten nicht als Kante zur Farbe sehen, entsteht ihre Abneigung dem Schatten gegenüber und die kindliche Idee, ihn abzustreifen. Es ist wie in der vorzüglichen Geschichte von Peter Schlemihl, die auf einer Sage beruht die der Albert von Chamisso bei seinen Forschungsreisen in Polynesien gefunden und für unsere christlichen Ohren umformulierte. Schlemihl verkauft seinen Schatten an einen Unbekannten gegen einen Beutel Gold, der nimmer versiegt. Er schließt sich aber damit von der Welt der anderen aus, denn der Schatten allein eröffnet die Möglichkeit zur Farbe und damit zur Lebendigkeit. Nicht umsonst verlangt seine Braut, dass er den Schatten wiederbeschaffe, bevor sie einer Eheschließung zustimme. Der Teufel aber will ihm den Schatten nur im Tausch gegen die Seele zurückgeben. Und beinahe könnte man Schlemihl dazu raten, denn das Fehlen der Seele fällt in der menschlichen Gemeinschaft weit weniger auf als das Fehlen des Schattens. Doch Schlemihl weigert sich, wirft den Goldbeutel in einen Abgrund und lebt weiter als einsamer Naturforscher. Und so ist es doch um uns Forscher bestellt, dass uns der unbeschwerte Umgang mit dem fehlt, nach dem wir so dringlich suchen. Denn nie mehr werde ich die Farben als bloße Beigaben der Dinge sehen können, vielmehr immer aufs Neue ihre schwere Geburt an den Schattenkanten, aus denen sie sich beständig zwängen, mitleidend nachempfinden. Manchmal schwindelt mir bei dem Gedanken, dann wieder fasse ich mich klar. Dann möchte ich erneut weinen in Erinnerung an den Liebreiz des Gesichts der Kranken, das aus dem Schatten des Fensterladens entstand. Betrachte ich meine Hand, die die Feder hält, so sehe ich die schwarzen Schattenräume zwischen den Fingern und sehe sie das Schattenhell der Glieder hervordrücken. Der Schatten selbst ist lichtlos und flach, weil er ständig die Farben gebiert. Er legt sich nicht über alles, wie man landläufig meint, sondern lässt alles aus sich entstehen.



Arbeiten von A. Masche


Ende September ist Günther in Norditalien angelangt. Von dort schreibt er:

Zu tiefst verehrter Herr Geheimrat,
aufgewühlt von den vielen Beweisen und Empirien, die ich alltäglich ansammle, wurde mir heute beim Erwachen ein eigentümliches Phänomen zu Teil: Ich sah den Raum mit einem Mal durchschnitten von Linien, sah nicht mehr die Gegenstände, die mein Zimmer füllten, in ihrer Gänze, sondern allein deren Kanten und weiter die Farben, die sich an diesen Kanten entwarfen. Ich blätterte aufgeregt in Eurer Farbenlehre, um noch einmal nach der Bedeutung der Kanten und Grenzen zur Entwicklung des Lichts zu suchen, die ich in unvergleichlicher Manier dort beschrieben wusste, konnte aber auch an den Außenkanten der Buchseiten selbst nur immer wieder das Entstehen von Farben beobachten. Als ich mich nun zwang und mit ganzer Kraft auf die gedruckten Lettern hineinblicken wollte, sah ich an deren dunklen Kanten ebenfalls Farben entstehen, ganz wie ihr es beschreibt, sodass die Buchstaben zur Malerei wurden, die durch ihre schwarzen Linien das Weiß des Blattes beständig mit neuen leuchtenden Farben füllten. Und ich dachte, dass die Vorhölle, das Fegfeuer, nichts anderes sein müsse als eine solche Kante, und dass sich allein deshalb in ihr die glühendsten Farben finden, weil sie unsere Seele leer brennen sollen, zwischen dem Dunkel der Hölle, die ja Abwesenheit des Lichtes und der Erkenntnis gleichermaßen ist und dem Himmel, der nichts anderes ist als Licht. Und alle drei bilden eine Einheit, denn wer wollte sich anmaßen zu sagen, wer das Licht erzeugt, die dunkle Seite der Kante oder die helle? Newton war mit Spaltblende, Prisma und Linse in seine Dunkelkammer gezogen, um den Prozess umzukehren und das Licht zu spalten. Dennoch hat er die wahre Bedeutung der Farben und ihre Entstehung aus den Kanten nicht zu ergründen vermocht, auch wenn man überall sein Diktum nachbetet. Immer wieder sehe ich bedauernswerte kleine Geschöpfe, die von Lehrern gezwungen Farbkreise im Newtonschen Aufbau malen und hernach gleich einem Kreisel in Bewegung setzen. Doch würden sie nur hinschauen, so könnten sie mit eigenen Augen sehen, dass nie ein Weiß aus den Farben entsteht, sondern immer nur ein schlieriges Grau – und allein darin der Newtonschen Theorie ähnlich. Wie unvergleichlich hingegen dieses Leuchten um mich herum, nachdem ich die Kanten als lichtgebende Elemente erkennen durfte.

Heide Khatschaturian
In Orvieto, nachdem Günther die San Brizio Kapelle aufgesucht hat, notiert er:

Dante wusste, dass dort, wo der Schatten fehlt, auch kein Leben ist. Denn die Toten in seinem Inferno sind ohne Schatten und erkennen Dante als Eindringling aus der Welt der Lebenden als sie von seinem Leib "das Licht prallen und seinen Schatten sahn". Doch, und dies ist erneuter Beweis für die Richtigkeit Ihrer Lehre, können wir Menschen uns selbst die Toten nicht schattenlos vorstellen, da der Schatten den Menschen erst in der Welt und die Dinge in unserem Sehen verankert. So malt Signorelli in seiner Darstellung der Begegnung Dantes mit den Schattenlosen, diesen doch immer auch einen Schatten, wenn auch einen kürzeren, da seine Figuren dem Auge sonst fremd bleiben müssten und mangelhaft ausgeführt erschienen, ohne jegliche Tiefe, gleichsam auf dem Hintergrund schwebend. Denn wir brauchen den Schatten um zu existieren, brauchen ihn auch um den anderen zu erkennen. Die Griechen führen den Beginn jeglicher Malerei nicht umsonst auf die Skiagraphie, die Schattenmalerei, zurück und erzählen die Geschichte der Tochter eines Töpfers mit Namen Butades. Jene Magd verfiel auf die Idee, vom abreisenden Geliebten den auf die Hausmauer fallenden Schatten abzuzeichnen, um sich so eine Erinnerung von ihm zu bewahren. Das Schattenbild aber hat seine besondere Wirkung auf uns allein, weil wir das, was es abbildet, hinter uns vermuten und uns selbst im Strahl zwischen Objekt und dessen Projektion wähnen.

Ein auf Ende Oktober 1828 datierter Brief - Christoph Andreas Günther ist inzwischen zwei Monate unterwegs - enthält nur noch fragmentarische Eintragungen, die mehr an sich selbst als an Goethe gerichtet zu sein scheinen. Unter anderem schreibt Günther:

Ombrageux nennt der Franzose ein scheues Pferd, so wie es der Bukephalos war, das ochsenköpfige Tier, das niemand zu reiten verstand außer Alexander, der erkannte, dass es vor seinem eigenen Schatten zurückschrak und es gegen die Sonne stellte, damit es diesen nicht mehr sehen konnte. Scheut das Pferd, weil es den eigenen Schatten als etwas Fremdes nimmt oder weil es in dem Schatten das eigene Selbst erkennt?


Martin Blankenhagen
Martin Blankenhagen


Die Schattenseite ist die farbgebende Seite. Das Schattenholz das blühende, knospende Holz, der Schattengraf, derjenige, der wahrhaft über uns regiert und der Schatten eines Zweifels, das, was den Zweifel beseitigt und erhellt.

Das Schattenalphabet – zum Memorieren für ABC Schützen ersonnen:

Im A seh ich das Z verfangen
Im B tun zweimal D gleich hangen
Das C verschattet sich zum O
Das U das macht es ebenso

Das Leben gleicht dem Schattenspiel
Was scheint als Anfang ist oft Ziel
Wir drehn uns um uns bald im Kreis
Und sehn im Schatten nicht das Weiß

Und liegt in der Traurigkeit nicht auch immer eine Erleichterung? Entsteht aus dem Schatten, der sich über die Kante des Selbst legt, nicht auch eine neue Farbe?

Der Schatten ist immer auch das Entblößte, dessen wir uns selbst nicht bewusst sind, und vor dem wir besonders in Scham erschrecken, wenn ein anderer ihn hinter uns entdeckt.

Wenn doch noch einmal der Schatten des Herrn Geheimrats auf mein Gesicht und mein Gemüt fallen könnte, um daraus die kräftigen Farben meiner viel zu früh vergehenden Jugend entwickeln zu können, so wie man von Petrus sagt, dass er diejenigen heilte, auf die sein Schatten fiel, festgehalten auf dem Gemälde von Masaccio in Santa Maria del Carmine. Und Massacio zeigt so vortrefflich, wie der Schatten Petri den Lahmen nicht verdunkelt, sondern ihn im Gegenteil lebendig und farbig aus dem Schatttenwurf entstehen lässt. Umgekehrt habe ich das Gefühl, dass nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge, jedes noch so kleine Staubkorn, sich zu reinigen hätten, sobald mein ungenügender Schatten sie streift, so wie in Indien die Brahmanen umgehend im heiligen Ganges baden, sobald der Schatten eines Unberührbaren allein ihren Rocksaum berührt.

Andreas Masche / Alte Saline Hallein

Mit diesem Brief bricht die Korrespondenz ab. Die Spur Christoph Andreas Günthers scheint sich in Italien zu verlieren. Goethe glaubt ihn ein Opfer von marodierenden Banditen, da er sich der Treue und Zuverlässigkeit Günthers sicher ist. Tatsächlich, so stellt sich erst Ende des 19. Jahrhunderts durch Nachforschung des Goethe Biografen Ferdinand Lutzow heraus, war Günther nie bis nach Italien gelangt und schon bald wieder nach Jena zurückgekehrt, wo er unter erbärmlichen Verhältnissen in unmittelbarer Nähe Goethes lebte. Lutzow schreibt: "Niedergedrückt von der Verantwortung, dem großen Gelehrten die fehlenden empirischen Beweise für dessen Lehre von der Entstehung der Farben aus Licht und Schatten erbringen zu müssen, erlitt Günther schon nach drei Wochen des fieberhaften Sammelns einen Nervenzusammenbruch, verbunden mit Halluzinationen und Sehstörungen. Eingeliefert in das Jenaer Sanatorium wird dort eine Nervliche Erschöpfung mit einer beginnenden Geisteskrankheit diagnostiziert und eine Einweisung in die städtische Nervenheilanstalt verfügt." Günther soll diese Einrichtung nicht mehr verlassen. Er stirbt dort sieben Jahre später, 1835, drei Jahre nach Goethe. Von seinen zahlreichen Aufzeichnungen zur Helligkeit der Schatten und der Entstehung der Farben an den Kanten zur Dunkelheit, die in der Krankenakte erwähnt werden, ist nichts erhalten.



Ralph Zoller



Claudia und Hans-Jürgen


R. Zehetmeier im Gespräch



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